Das kleine Mädchen
zupfte an seiner Jacke. "He Du, Weihnachtsmann!" Herr Kaddig war nicht mehr
ganz bei der Sache. Der Tag war lang gewesen. "Weih - nachts - mann!" wiederholte
das kleine Mädchen. Automatisch griff Herr Kaddig in den Geschenkesack
nach einem Minikuscheltier. "Was ist denn, mein Kind?" Er sah das Mädchen
nun an. Unheil. Dieser Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Die Kleine
war, wie man so sagt, ganz auf Draht und beäugte jede seiner Gesten
und Bewegungen, lauernd. Dabei sah sie ganz süß aus in ihrem roten
Wintermäntelchen, die blonden Haare, die Schleife darin. Mit einer
wohlmeinenden Geste streckte Herr Kaddig ihr das Kuscheltier - eine braune
Maus - entgegen. "Hier, mein Kind! Fröhliche Weihnachten! Und sei
schön brav, damit ich am Heiligen Abend auch wiederkomme!" Der
Weihanchtsmann wollte sich am liebsten auf die Zunge beißen. Alle Zeichen
im Gesicht des Mädchens stellten sich auf Sturm - oder besser: Angriff.
"Ich bin immer lieb, und außerdem bist Du gar kein richtiger
Weihnachtsmann!" raunzte sie ihn an und warf ihm die Maus vor die Stiefel.
Herr Kaddig war ganz von der Rolle. Die war noch keine fünf Jahre alt,
und als er gerade mit einem versöhnlichen "Aber nicht doch, mein Kind,
wer sagt denn so etwas..." ansetzen wollte, sprang sie ihm auf den Bauch,
klammerte sich an seinen Hals und riß ihm den künstlichen Rauschenbart
aus dem Gesicht. "Da! Das ist gar kein Weihnachtsmann! Mama, komm mal, das
ist gar kein Weihnachtsmann!" Herr Kaddig war mit dieser Situation mangels
Erfahrung als Weihnachtsmann oder wenigstens Nikolaus schlicht überfordert.
"Kaufen geht durch's Herz, Herr, Kaddig, das ist Ihre Aufgabe!" hörte
er den Filialleiter sagen. Er spürte die hundert Blicke auf sich, alle
empört: das arme Kind! Er haltungslos als Weihnachtsmann ohne Rauschebart.
"Was tun Sie da mit meinem Kind?" brüllte ihm eine Frauenstimme aus
der Menge entgegen. Das Mädchen ließ ihn endlich los und rannte
zur offensichtlichen Mutter. "Schämen Sie sich denn nicht, das Kind
so zu erschrecken! Das ist ja unerhört!" Die Mutter, das Kind, die Menge
wendeten sich ab. Das ist ja unerhört. Der Weihnachtsmann richtete
notdürftig den Bart, als eine freundliche Lautsprecherstimme die Kundschaft
aufforderte, den Laden zu verlassen, es sei gleich sechs. Sechs Uhr! Feier
Krensmann!! Und sei ja pünktlich!!! Ich warte dort!!!! Dieses Problem
hatte Herr Kaddig ganz verdrängt. Was sollte er anziehen? Erst nach
Hause - nein, er kam ohnehin schon zu spät.
Die Passage war fast leer, als er vor die großen Eingangstüren
trat und zu den Treppen der U-Bahn hinüberging. Krensmanns wohnten nur
etwa zehn Minuten von hier, Station Mendelssohnstraße.
© M.B. 1997