Die verlorenen Strophen

Wie "Stille Nacht, heilige Nacht" entstanden ist

Einige in der Gemeinde hielten das Ding für eine Mausefalle oder ein Gerät zum Insektenfangen. Dabei hatte der Organist Franz Gruber nur eine Gitarre im Arm. Die Gemeinde war arm und die Orgel kaputt. Für den Heiligen Abend 1818 hatte aber noch ein Lied gefehlt. Seinem Freund, dem Hilfsprediger Joseph Mohr, war ein Text eingefallen, zu dem Gruber sich rasch eine Melodie ausgedacht hatte. Als die beiden Männer "Stille Nacht, heilige Nacht" der Gemeinde vortrugen, ahnte niemand von denen, die damals mit dabei waren, daß es die Uraufführung eines ganz besonderen Liedes werden sollte: Kurze Zeit später trat es einen Siegeszug um die Welt an.
Einige Jahre nach diesem Heiligen Abend kam endlich ein Orgelbauer nach Oberndorf, um die Orgel zu reparieren. Er gab das Lied in seiner tirolischen Heimat den Geschwistern Strasser. Die zogen als Handschuhmacher und Volksmusikanten durchs Land. So wanderte das Lied über Leipzig schließlich nach Berlin. Dort ließ es sich sogar der König von seinem Staats- und Domchor jedes Jahr vorsingen. Und die neue bürgerliche Gesellschaft machte es ihm nach. Das einfache Dorflied war zum Ausstattungsstück der bürgerlichen Weihnacht geworden.
Verständlcih also, wenn einige Jahrzehnte später die streikenden Textilarbeiter von Crimmitschau ihren Protest gegen das polizeiliche Verbot von Weihnachtsfeiern mit einer Parodie auf das Lied ausdrückten:
"Heilige Nacht! Heiß tobt die Schlacht und es blitzt und kracht. Friede auf Erden die Christenheit singt, während der Arm das Schwert mutig schwingt, kämpfend für Freiheit und Recht."
Immer wieder nahmen Protestler und Kabarettisten das Lied, um ihre Kritik am bürgerlichen Weihnachtsfest unter die Leute zu bringen. So auch Dieter Süverkrüp:
"Stille Nacht allerseits. Heilig Abend zusammen. Macht die Tür zu, das Licht aus, die Kerzen an. Amen."
Bürger, Arbeiter, Protestsänger und Kabarettisten bezogen sich allerdings auf eine Fassung des Liedes, über die sich Franz Mohr und Joseph Gruber nur gewundert hätten: Sie hatten damals der Gemeinde sechs Strophen vorgetragen:

  1. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    Alles schläft, einsam wacht
    nur das traute hochheilige Paar.
    "Holder Knabe im lockigen Haar,
    schlaf in himmlischer Ruh',
    schlaf in himmlischer Ruh'!"

  2. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    Gottes Sohn, o, wie lacht
    Lieb' aus deinem göttlichen Mund,
    da uns schlägt die rettende Stund',
    Christ, in deiner Geburt,
    Christ, in deiner Geburt.

  3. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    Die der Welt Heil gebracht,
    aus des Himmels goldenen Höh'n
    uns der Gnade Fülle läßt seh'n:
    Jesum in Menschengestalt,
    Jesum in Menschengestalt.

  4. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    Wo sich heute alle Macht
    väterlicher Liebe ergoß
    und als Bruder huldvoll umschloß
    Jesus die Völker der Welt,
    Jesus die Völker der Welt.

  5. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    lange schon uns bedacht,
    als der Herr, vom Grimme befreit,
    in der Väter urgrauer Zeit
    aller Welt Schonung verhieß,
    aller Welt Schonung verhieß.

  6. Stille Nacht! Heilige Nacht!
    Hirten erst kundgemacht
    durch der Engel Halleluja
    tönt es laut von fern und nah:
    "Christ, der Retter, ist da,
    Christ, der Retter, ist da!"

"Stille Nacht, heilige Nacht" - mit allen sechs Strophen ist es ein richtiges Weihnachtslied. Aber vielleicht paßt das vielen nicht. Jesus als "Bruder der Welt", als Zeichen, das "der Welt Schonung verheißt" - das fordert zum Nachdenken heraus. Das könnte unbequem werden. Und die bürgerliche Weihnacht soll doch vor allem bequem sein !?! Mit allen sechs Strophen dürfte sich das Lied zur "harmlosen" Umrandung nicht mehr so gut eignen.

Claus-Ulrich Heinke